Vorlesen

Max Beckmann (1884-1950)

Messingstadt, 1944
Gemälde
Moderne Galerie

 

Im Tagebuch Max Beckmanns wird „Messingstadt“ erstmalig am 25. Dezember 1943 erwähnt. In späteren Eintragungen erscheint das Gemälde auch unter den Titeln „Goldenes Bergwerk“, „Goldenes Horn“, „Goldenes Tor“; schließlich als „Traum“. Es entstand in Amsterdam, auf jenem Tabakspeicher am Rokin, der Beckmann, nachdem er Deutschland 1937 verlassen hatte, als Atelier diente. Nach vielen Übermalungen und Neuentwürfen war „Messingstadt“ im August 1944 abgeschlossen. Im März 1945 erwarb es zunächst Helmut Lütjens, der Amsterdamer Kunsthändler und Freund Beckmanns während der Emigrationsjahre.

Der Titel verweist auf eine Erzählung aus „Tausendundeine Nacht“. In der Erzählung bewahren Jungfrauen eine Stadt und die in ihr verborgenen Schätze vor der Eroberung, indem sie die Jünglinge, die über ihre Mauern zu gelangen versuchen, in den Tod locken. Zweifellos ist im Gemälde weit mehr als eine Illustration dieser Erzählung zu sehen. Ihr Inhalt aber verweist zunächst auf einen Themenkreis, der für Beckmann von zentraler Bedeutung war: auf die Verbindung von erotischer Anziehung und Tod. Die Problematik von Mann und Frau im Zusammenhang mit „Messingstadt“ betonte auch Quappi Beckmann, die sich später erinnerte: „Die Bedeutung von ‚Messingstadt‘ ist: Liebe – Abschied. Hintergrund türkische Stadt, er (Beckmann) dachte an Istanbul, nannte das Bild daher zuerst ‚Das goldene Horn‘, fand aber den Titel zu romantisch gegenständlich und nannte es dann ‚Messingstadt‘. Max (war) nie in Konstantinopel, hatte auch keinen besonderen Wunsch dahin zu fahren. Er gebrauchte diesen Hintergrund rein aus malerischen Gründen. […] Ich weiß dies, weil wir darüber sprachen. Das ganze ist eine variierte Form des Themas Mann und Frau – was er oft malte.“

Das Zentrum des Gemäldes wird durch ein nebeneinander liegendes Menschenpaar bestimmt. Der Mann wendet sich ab, verbirgt offensichtlich verzweifelt den Kopf, während die Frau den Reiz ihrer Körperlichkeit offen zur Schau stellt. In ihr erscheinen Vitalität und die Verlockungen des Lebens, die den Mann immer neu in den Lebenskreis ziehen. Ihr Armband, auch das Tuch, das die Beine des Mannes bedeckt, wirken Fesseln gleich. Ihre gemeinsame Situation erscheint unentrinnbar. Doch ist das Menschenpaar nicht nur aneinander gebunden, es ist gleichzeitig auch  zwischen Schwert und Lanze im Vordergrund und der Stadt mit ihren glänzenden Türmen im Hintergrund wie gefangen. Und unter ihm öffnet sich ein Tor ins Dunkel.

In der Darstellung formuliert Beckmann ein radikal pessimistisches Weltbild. Im Aneinandergebundensein von Mann und Frau sieht er den Ausgangspunkt für die sich ständig wiederholende Qual menschlicher Existenz. Für Beckmann ist sie bestimmt durch die Vordergründigkeit äußeren Scheins, durch materielle Verlockungen und ideelle Versprechungen, für die die weithin glänzenden Türme der Stadt stehen. Der Zugang zur Stadt ist durch Mauer oder Zaun verwehrt, der Mensch gelangt nicht in sie, ihre Versprechungen lösen sich für ihn nicht ein. Schwert und Lanze stehen für Verderben und Tod. Bedrohung und Versprechung markieren die gegensätzlichen Pole menschlichen Lebens. Und im Dunkel, in das das Tor führt, wohnen die Götter der Unterwelt, die die Abhängigkeit des Menschen, seine Hilflosigkeit inszenieren. Die Schwärze der Unterwelt verweist letztlich auf das Nichts, die Sinnlosigkeit, die die Existenz bestimmen.

(Ernst-Gerhard Güse, in: Meisterwerke des 20. Jahrhunderts, Saarland Museum, 1999)

 

Max Beckmanns „Messingstadt“ war 1955 auf der ersten documenta ausgestellt. Direktor Rudolf Bornschein erwarb das Gemälde für die Sammlungen des Saarlandmuseums im Jahr 1958.

 

 

Begleitende Lyrik

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Rilkes Gedicht „Die Liebenden“ entstand wahrscheinlich im Sommer 1908 in Paris und entstammt zeitlich Rilkes mittlerer Schaffensphase. Zugleich ist dieses Gedicht keinem Zyklus oder einer Sammlung zugeordnet. Ursprünglich war das Gedicht für die Veröffentlichung der „Neuen Gedichte“ vorgesehen, wurde von Rilke vor Drucklegung jedoch wieder entfernt.

 

Die Liebenden

Sieh, wie sie zueinander erwachsen:

in ihren Adern wird alles Geist

Ihre Gestalten beben wie Achsen,

um die es heiß und hinreißend kreist.

Dürstende, und sie bekommen zu trinken,

Wache und sieh: sie bekommen zu sehn.

Laß sie ineinander sinken,

um einander zu überstehn.

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