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Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938)

Fränzi und Marzella im Atelier, um 1910
Bleistiftzeichnung
Moderne Galerie (Ausstellung „Welt – Bühne – Traum. Die ‚Brücke‘ im Atelier“)

 

Zentrale Themen der Atelierbilder der Brücke-Künstler sind der nackte, von zivilisatorischen Zwängen befreite Körper und die Aneignung von Motiven der ozeanischen und afrikanischen Kunst. Damit einher geht die Inszenierung der vermeintlichen „Natürlichkeit“ von Frauen, Kindern und People of Color.

Die Ausstellung „Welt – Bühne – Traum. Die ‚Brücke‘ im Atelier“ nimmt nicht nur den Reichtum der künstlerischen Neuerungen der frühen BRÜCKE-Jahre in den Blick. Sie beleuchtet auch deren problematische Facetten: den fragwürdigen Umgang mit dem weiblichen und kindlichen Akt sowie die Darstellung außereuropäischer Menschenbilder vor dem Hintergrund der rassistischen Kategorien des kaiserzeitlichen Kolonialismus.

Die 9-jährige Fränzi und die 14-jährige Marzella wurden von den „Brücke“-Künstlern auffallend häufig dargestellt und verkörperten für sie jeweils den Typus einer bestimmten Stufe von heranwachsender Weiblichkeit. Fränzi stand für das vorpubertäre Mädchen in seiner Unbefangenheit und kindlichen Unschuld. In der älteren Marzella sahen sie die allmählich erwachende Frau.

Ihres eigenen Körpers bewusst, reagiert sie auf das Beobachtet-Werden mit Scham, wie ihre übereinandergeschlagenen Beine und die vor der Brust verschränkten Arme verdeutlichen. Trotz anderer Moralvorstellungen in der wilhelminischen Zeit erscheint es aus heutiger Sicht höchst fragwürdig, ob der Umgang der „Brücke“-Künstler mit der Unbedarftheit der minderjährigen Modelle zum Zwecke neuer künstlerischer Zielsetzungen ethisch zu rechtfertigen ist.

Das Blatt gelangte 1982 mit Eingliederung der Sammlung Kohl-Weigand in die Grafiksammlung der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz.

(Stiftung Saarländischer Kulturbesitz)

 

 

Begleitende Lyrik

Peter Hille (1854-1904)

Peter Hille (geb. 1854 im nordrheinwestfälischen Erwitzen, gest. 1904 in Berlin) war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine kuriose Außenseiter-Figur in der Literaturszene. Zumeist an der Armutsgrenze darbend und häufig auf die Unterstützung von seinen Künstlerfreunden angewiesen, lebte er als umherziehender Schriftsteller (Vagant) um 1880 in London, danach in den Niederlanden, Italien und der Schweiz. Um 1900 war er in der Berliner Literaturszene unterwegs und gründete das „Cabaret zum Peter Hille“ gemeinsam mit Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler und Richard Dehmel.

Hille publizierte zu Lebzeiten vier Romane, seine Gedichte erschienen in verschiedenen Zeitschriften. Seine Freunde Julius Hart und Peter Baum gaben postum ab 1904 die „Gesammelten Werke“ (von Peter Hille) in vier Bänden heraus.

Else Lasker-Schüler setzte ihm mit ihrem 1906 erschienenen Erstlings-Prosaband „Das Peter Hille-Buch“ ein literarisches Denkmal. Lovis Corinth malte 1902 ein beeindruckendes Portrait von Hille, das sich heute in der Kunsthalle Bremen befindet.

Peter Hille starb 1904 in Berlin an einem chronischen Lungenleiden.

Das Gedicht „Das Mädchen“ entstammt der Sammlung „Blätter vom fünfzigjährigen Baum“.

 

 

Das Mädchen

Gestern noch ein dürftig Ding,

Das so grau und albern ging,

Nichts an ihm zu sehen –

Und muß heut behutsam sein,

Wie wenn im Mai die Blüten schnein,

Daß nicht all verwehen.
 

 

Wie wenn ich Blüten an mir habe,

Als sei ich eine Gottesgabe –

Ein reines Wunder bin ich ja,

Wie nie ich eins mit Augen sah.

Und muß mich sehr zusammennehmen

Und schämen.

 

 

Warum? Weil ich so blühend bin

Und weil der Wind treibt Blüten hin,

Die nicht am Baum erröten

Und voller Vorsicht sind

Und Unschuld und Erblöden –

Der dumme Wind!

 

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